Diplomarbeit
Melissa Siegfried
So kommt der Mungg in die Dose
Zu finden ist sie in «Dorflädeli», Drogerien und auf Passmärkten. Die Urner Murmeltiersalbe. Wertvoll ist sie unter anderem wegen ihres Öls, das natürliches Kortison enthält. Aber wie gewinnt man dieses eigentlich? Ein Hintergrundbericht.
Diplomarbeit fürs MAZ
Warnung!
Es folgen sensible Aufnahmen von verstümmelten Munggen.
Beide legen ihre Gewehre ins Gras. Toni Bundi packt den geschossenen Munggen aus dem Aufbewahrungssack aus. Zuerst schaut er ihn an, schüttelt ihn, legt ihn schwungvoll auf den grossen Stein nebenan und streicht ihn flach. Totenstarre. Erwin Estermann nimmt ein Sackmesser hervor und setzt den Schnitt beim After an. «Tu ihn nur bis ganz oben auf», sagt Toni Bundi. Erwin Estermann schlitzt von unten nach oben die Felldecke des Tieres auf, Gedärme kommen zum Vorschein. Mit blossen Händen nimmt er diese und schaut sie an. «Da haben wir die Leber», sagt er. «Aber die ist durch, das wird Futter für die Füchse.» Eigentlich sei die Leber dem Jäger bestimmt, der das Tier erlegt hat, da es besonders gutes Fleisch ist. «Weil der Schuss aber die Galle und die Leber gestreift hat, wird sie zu bitter sein, und deshalb ungeniessbar.» Plötzlich steigt ein unaushaltbarer Kadaver-Gestank auf. «Hier», Toni Bundi zeigt auf weisse Stellen im Fleisch des Tieres, «das ist das wertvolle Fett.» Weshalb es so kostbar ist, dazu später mehr …
Auf der Pirsch
Einige Stunden zuvor bei Jäger Toni Bundi daheim im ehemaligen Hotel Central in Hospental. Es ist der 14. September 2020, die Wanderschuhe bereits angezogen, der Rucksack und das Gewehr stehen bereit. Mit seinem langjährigen Kollegen und Gastjäger Erwin Estermann macht er sich auf den Weg ins Tal der Munggen, wie Murmeltiere in Uri genannt werden. Zirka 10 Minuten laufen sie zu Fuss Richtung Realp, biegen auf eine Weide ab und kommen nach weiteren 20 Minuten am Jagdort an.
Auf dem Weg flitzen immer wieder Munggen davon. In aufrechter Haltung schauen sie interessiert hinterher, ducken den Kopf, und eilen in rasendem Tempo in ihr Versteck. An einer Stelle trennen sich die beiden Jäger.
Toni Bundi kennt sich aus. Seit 35 Jahren jagt er Gämse, Hirsche, Rehe und auch Munggen. Ursprünglich, das hört man seinem Dialekt an, kommt er aus dem Wallis, genauer Salgesch. Er weiss aber, da er der Liebe wegen vor 46 Jahren nach Uri gezogen ist, dass Hospental sich mit seinen 1493 Metern über Meer ideal für die Munggenjagd eignet.
Zu beobachten sind die Nagetiere ab einer Höhe von 800 bis zu 3000 Metern. Sogar mit extremen alpinen Bedingungen kommen sie zurecht und besiedeln Matten bis an den Fuss von Gletschern. Munggen sind in Uri schon immer heimisch gewesen, heisst es im Buch «50 Jahre Urner Jägerverein». Früher wurden sogar in einigen Gebieten Populationen ausgesetzt. Teilweise haben Munggen aber auch das Land der Bauern mit Löchern im Boden beschädigt, und so wurden sie ausgegraben oder ausgeräuchert. Die Landsgemeinde erliess im 16. Jahrhundert ein Verbot für diesen Vorgang. Seither erhalten Bauern für den Schaden Gelder. In Ursern wurde der Bäzberg für die Jagd auf Munggen ausgenommen. So wurde ein Wild-Schutzgebiet für die begehrten Tiere geschaffen. Heute bringt das Fett nicht mehr das grosse Geld wie damals. Trotzdem wird das Wildtier noch geschossen, aber eher aus Tradition sowie um die Überalterung der Population zu verhindern.
Makaber dieser Kadaver
Sachte legt Toni Bundi seinen grossen Militärrucksack ab und platziert das Gewehr darauf. «Jetzt musst du leise sein», flüstert er, während er aufrecht im Gras sitzt und durch den Feldstecher schaut. Er bewegt sich ruhig zum Gewehr, legt den Feldstecher sorgfältig ins Gras und schaut durch das Zielfernrohr. «Duck dich», sagt er unerwartet schnell, aber leise. Ein paar Sekunden positioniert er sich im noch feuchten und kalten Gras. «Siehst du den Munggen dort oben auf dem kleinen Podest?», fragt Toni Bundi. Nichts. Doch nach ein paar Schwenkern mit dem Feldstecher steht da wirklich ein Mungg auf einem Stein. «Ja, dort oben ist …» PENG. Zu spät. Peng. Peng. Peng. Ein Schuss – zig Mal hallt das Echo durch das Tal. «Getroffen», sagt Toni Bundi mit ruhiger Stimme. Er richtet sich auf und geht zum geschossenen Munggen. Dort liegt er also, der mittelgrosse Mungg. Tot, im Eingang seines Tunnels, zu seinem Versteck. Toni Bundi nimmt ihn in seine beiden Hände. Makaber dieser Kadaver.
Toni Bundi und der tote Mungg. (Fotos: Melissa Siegfried)
Jagen, nachdem sie sich vollgefressen haben
In Uri dürfen pro Jagd-Patent und pro Saison zwei Munggen bei der Hochwildjagd geschossen werden. Diese findet meist im September vor der Niederwildjagd statt. Aber warum werden Munggen eigentlich im Herbst gejagt? Das Wildtier frisst sich über den Sommer Fettreserven an, um den Winterschlaf von bis zu sechs Monaten zu überleben. Im Winterschlaf reduziert sich nämlich die Körpertätigkeit um bis zu 90 Prozent. Zwei Atemstösse und ein Puls von 20 Schlägen pro Minute reichen aus, um weiterzuleben. Im Herbst haben sich die Wildtiere also bereits genügend Fettreserven angefressen.
«Das Munggenöl enthält ein natürliches Kortison.»
– Toni Bundi
Kortisonsubstanzen
Weshalb um alles in der Welt, tötet man diese süssen Tiere? Die Antwort liegt auf der Hand, wortwörtlich. Weil sich im Munggen das für den Menschen kostbare Öl versteckt. 30 bis zu 50 Prozent des Körpergewichts ist Fett. Aber was ist denn in diesem Fett genau drin, was so gut für uns ist? «Das Munggenöl enthält ein natürliches Kortison», klärt mich Toni Bundi auf.
Eine wissenschaftliche Untersuchung der Universität München aus dem Jahr 1988 bestätigt, dass das Munggenfett Kortisonsubstanzen beinhaltet. Verschiedene Steroidhormone wie Glucocorticoide (Cortison und Hydrocortison), eben diese Kortisonsubstanzen, sowie das Gestagen Progesteron sind enthalten. Gemäss den Autoren der Studie liegt die Corticoidkonzentration im Öl im Bereich von Kortisonsalben, welche als Arzneimittel verkauft werden.
Der Munggensalbe werden schmerzlindernde und entzündungshemmende Eigenschaften zugeschrieben. So wird sie bei Arthrose, Rheuma, Muskel- sowie Gelenkschmerzen eingesetzt.
Toni Bundi trinkt das Öl auch. «Ein Esslöffel erwärmtes reines Munggenöl, und der Husten wie auch die Erkältung ist in zwei Tagen vorüber.» Es stinke zwar abscheulich, aber den Zweck erfülle es. Reines Munggenöl könne aber auch schädlich sein, sagt Toni Bundi. «Wenn es zu oft aufgetragen wird, beispielweise immer morgens und abends, wirkt das natürliche Kortison zu intensiv. Somit können Knochen und Gelenke zu weich werden.»
So kommt der Mungg in die Dose – Teil 1. (Quelle: Youtube / Melissa Siegfried)
VERWERTUNG
Andermatt
Der Mungg wird geschindet und gemetzgt. Zudem wird das Öl ausgelassen.
Kopf ab
Von seinem Versteck vor dem Tunnel transportiert Toni Bundi den Munggen auf einen grossen Stein unterhalb des Jagdorts. Toni Bundi und Erwin Estermann nehmen den Munggen aus, kontrollieren Leber und Galle, verstecken die Gedärme unter einem danebenliegenden Stein, waschen das Tier dort von innen aus und packen es wieder in den Plastiksack. Oft erledigen die Jäger die nächsten Schritte zur Gewinnung des Munggenöls. Der tote Mungg aus Hospental findet aber den Weg zu Heidi Russi nach Andermatt.
Schinden, metzgen und Öl auslassen steht eine Woche später auf dem Plan. Aus dem Kühlschrank in der Waschküche nimmt Heidi Russi den Munggen hervor. Mit einer Schnur befestigt sie die zierlichen Füsse des zirka 3 Kilogramm schweren Munggs an der Wäscheleine und fängt an, mit einem kleinen Messer das Fell vom Fleisch zu trennen. Heidi Russi arbeitet von den Füssen bis zum Kopf. Als sie beim Kopf ankommt, sagt sie: «Den brauchen wir nicht, der kommt ab.» So hält sie in der einen Hand den kleinen Kopf und in der anderen den Körper und dreht langsam mit beiden Händen in entgegengesetzte Richtungen. Es knackst und knirscht.
Heidi Russi schindet den toten Munggen. (Fotos: Melissa Siegfried)
«Murmetäpfäffer»
Während des Schindens schneidet sie immer wieder sorgfältig das weisse Fett weg und legt es in einen separaten Behälter. Von der Waschküche geht es in die Küche. Dort metzgt sie den enthäuteten Kadaver, damit das Fleisch später zum «Murmetäpfäffer» verwertet werden kann, beispielsweise zu Ragout oder Voressen an einer Wildrahmsauce.
Dieses Munggenfleisch wird vakuumiert und später für «Murmetäpfäffer» verwendet.
(Foto: Melissa Siegfried)
Öl auslassen
«Das ‹Munggäfett› ist ein sehr starker Geschmacksträger», sagt Heidi Russi. «Deshalb ist es umso wichtiger, das gesamte Fett fein säuberlich zu entfernen, um das Wild später auch geniessen zu können.» Aber nicht nur deswegen trennt sie das Fett. Der wichtigste Grund bleibt das Munggenöl. Das gesammelte Fett gibt Heidi Russi in eine Pfanne und kocht es bei niedriger Hitze.
Das gesammelte Munggenfett wird gekocht bis es zu Öl wird. Diesen Vorgang nennt man Öl auslassen. (Fotos: Melissa Siegfried)
Nach 20 Minuten ist es soweit, das Fett hat sich zu flüssigem Öl entwickelt. «Das wichtigste am Ölauslassen ist, dass es nicht zu heiss gekocht wird», erklärt Heidi Russi. «Falls das der Fall ist, verliert das Öl die Wirkstoffe und kann bräunlich werden.» Zirka 1 Deziliter füllt Heidi Russi in einen Glasbehälter ab. Hier drin ist es also. Das gelbliche Munggenöl. Aber welche Wirkstoffe nebst den Kortisonsubstanzen machen das Öl sonst noch so wertvoll?
So kommt der Mungg in die Dose – Teil 2. (Quelle: Youtube / Melissa Siegfried)
Produktion
Unterschächen
Die Urner Murmeltiersalbe wird durch ein Team selbst hergestellt.
«Das Munggenöl ist wertvoll aufgrund des Sonnenhormons Vitamin D und E.» – Hanni Gisler

Hanni Gisler (Foto: Melissa Siegfried)
Kampfer, Vitamin D und E
Die Antwort auf diese Frage gibt mir einige Tage später Hanni Gisler. Sie hat die Heilpflanzenschule absolviert und gelernt, mit solchen Wirkstoffen zu arbeiten sowie die Produkte selbst herzustellen. «Wertvoll ist das Öl aufgrund des Sonnenhormons Vitamin D und E», weiss Hanni Gisler. Ätherische Öle wie Kampfer seien ebenfalls drin, was der Salbe auch die entzündungshemmende Wirkung gibt. Das Kampfer sei im Öl nur enthalten, weil der Mungg sich von Lorbeergewächs, Korbblütlern und Lippenblütlern ernährt. So isst er im Frühjahr Wurzeln, später Blätter, Blüten, eine Reihe von wild wachsenden Pflanzen wie Thymian, Majoran und Wachholder sowie Blumen und Gräser. Ausserdem bevorzugen Alpenmurmeltiere Pflanzen mit höheren Konzentrationen von ungesättigten Fettsäuren. Das sind beispielsweise Alpenklee, Labkraut, Mutterwurz und Alpenwegerich. Die Vitamine im Öl stammen daher von den verschiedensten Pflanzen und Sträuchern, die sie zu sich nehmen. Eine weitere Eigenschaft, die das Öl so kostbar macht, ist, dass es besonders wasserarm ist. Nur 10 bis 12 Prozent Wasser ist im Öl vorhanden.
Hanni Gisler stellt die Urner Murmeltiersalbe mit einem Team in Unterschächen her. Das Rezept der Salbe hat sie selbst erfunden. (Fotos: Melissa Siegfried)
Seit 2013 verkauft Hanni Gisler mit ihrer Firma Veba Haushaltsartikel AG selbst hergestellte Urner Murmeltiersalben, sozusagen den Munggen in der Dose. Auf der eigenen Website, in Urner «Dorflädeli», Apotheken sowie Drogerien, aber auch auf Passmärkten und der Gotthard-Raststätte findet man das Produkt. Mit einem Team stellt sie es in Unterschächen her. Um an genügend reines Munggenöl zu gelangen, kauft sie es verschiedenen Jägern ab. In diesem Fall besorgte sie es bei Heidi Russi.
Die Urner Murmeltiersalbe wird in Unterschächen hergestellt. (Fotos: zVg / Svenja Gisler)
Optimal für Mensch und Natur
Die Rezeptur für die Salbe, die sie selbst erfunden hat, ist geheim. Was sie verrät, ist, dass die Salbe nebst dem reinen Öl, auch Brennnesseln und Tannenzweige beinhaltet. «Ich nehme die Tannenzweige der Äste, die die Förster abtun», sagt Hanni Gisler. Anfangs Sommer geht sie Brennnesseln sammeln, denn diese hätten sie hier um den Klausenpass zur Genüge. Der Natur will sie nichts wegnehmen, deshalb nimmt sie den ersten Schnitt und nicht die Samen. «Das Rezept soll sowohl für die Natur als auch für den Menschen optimal sein.» Das Geheimnis der Rezeptur sei, wie man die Inhaltsstoffe prozentual zusammensetzt, verrät Hanni Gisler. 70 Prozent reines Munggenöl befindet sich in einer 100-ml-Dose. So kann die Salbe mehrmals täglich aufgetragen werden.

Das fertige Produkt – die Urner Murmeltiersalbe. Von Uri für Uri. (Foto: Screenshot veba.ch)
Da das Rezept und die Produktion der Salbe geheim sind, erklärt Hanni Gisler im Video was es dazu alles braucht.
So kommt der Mungg in die Dose – Teil 3. (Quelle: Youtube / Melissa Siegfried)
Zurück zu Toni Bundi und Erwin Estermann. Die beiden Jäger machen sich auf den Weg heimwärts und lassen den Tag Revue passieren. «Hast du den riesen Munggen, der oben aus dem Loch kam, nicht gesehen?», foppt Toni Bundi seinen Kollegen. «Den hättest du schiessen müssen». «Ich war mir nicht sicher, dachte, der ist zu jung», antwortet Erwin Estermann und zwinkert ihm zu.
Zwei Munggen hätten also geschossen werden können. Stattdessen schoss Toni Bundi einen. Doch auch aus diesem entstand ein Festmahl und einige Portionen Urner Murmeltiersalbe für Menschen mit Schmerzen.

Ein Festmahl und einige Urner Murmeltiersalben für Menschen mit Schmerzen ist das Resultat dieser Jagd. (Foto: Melissa Siegfried)
Weitere Links:
Scheue Tiere gross zeigen – Mit Wildcams Tieren ganz nah. Magische Momente aus NETZ NATUR mit Andreas Moser. (Quelle: SRF Dok, 29.5.2020)
Murmeltiere-Zwerge mit Pfiff. (Quelle: Youtube / MrMurmeltier007 / SRF Dok, 18.06.2015)