Zur Ruhe kommen in einer Metropole

Dieses Persönlich ist am 14. August 2021 im «Urner Wochenblatt» erschienen.

Nein, es ist nicht Australien, Neuseeland oder England geworden. Mein One-Way-Ticket habe ich in die Türkei gebucht. Aber warum die Türkei? Englisch lernen in einem englischsprachigen Land hätte es schon auch getan. Aber dort finde ich nun mal nicht meine Wurzeln. 


Wurzeln, ja. Denn meine Mama ist Türkin, dort geboren und aufgewachsen. Somit bin ich halb Türkin, und meine Charakterzüge stammen zu einem kleinen Teil auch aus der Türkei. Zu einem kleinen Teil. Denn ich bin «schweizerisch» aufgewachsen. Deshalb sind Mamas und meine Ansichten manchmal unterschiedlich. Um herauszufinden, wo der Ursprung für diese Verschiedenheiten ist, bin ich hier.

 

Ausserdem wollte ich nach meinem erfolgreichen Abschluss am MAZ, dem Medienausbildungszentrum in Luzern, und meinem ausgelaufenen Arbeitsverhältnis beim «Urner Wochenblatt» reisen. In ein Land, dessen Klima dem der Schweiz überhaupt nicht ähnelt. Ein Land, dessen Leute gastfreundlich, offen, warmherzig sind und eine für mich sehr andere Kultur leben, mit welcher ich nicht aufgewachsen bin.

Ich bei meinem Lieblingsplatz auf der europäischen Seite von Istanbul bei Sarayburnu. Von dort aus sieht man direkt auf die berühmte 15 Temmuz Şehitler Köprüsü, das ist die für uns bekannte Bosporus Brücke. Aber nicht nur. Oft habe ich von dort aus stundenlang den wilden Delfinen zugeschaut.  (Foto: ZVG)

Blick vom Marmarameer auf die europäische Seite Istanbuls. (Foto: Melissa Siegfried)

Am 7. Mai bin ich also nach Istanbul gereist, meine erste Destination. Nach dem ganzen Stress, den ich Anfang dieses Jahres hatte mit Diplomarbeit abgeben, arbeiten, Reise organisieren, Wohnung kündigen und ausziehen, war mein erstes Ziel: zur Ruhe zu kommen. In einer Metropole wie Istanbul! Die beste Idee, die ich je hatte. Ironie off. Offiziell 16 Millionen Menschen – zweimal so viel wie in der Schweiz – gefühlt auf einem Haufen, und das in einer Stadt mit einer Bevölkerungsdichte von aufgerundet 3000 Einwohnern pro Quadratkilometer. Inoffiziell, so sagen es die, die hier leben, sind es gar bis zu 30 Millionen Menschen. Zum Vergleich: Die Schweiz hat eine Bevölkerungsdichte von aufgerundet 210 Einwohner pro Quadratkilometer. Wie man den Zahlen entnehmen kann, ist diese Stadt nur so mit Menschen überfüllt. In solch einer Metropole zur Ruhe zu kommen, ist umso schwieriger. Anfangs musste ich erst realisieren, dass ich nun «frei» bin und keine grossen Verpflichtungen mehr habe. Ich wusste nicht, wie mir die Hitze, das Essen und die Menschen bekommen.

 

Ich lernte alles langsam kennen. «Step by step» war mein Motto, nichts überstürzen und zuerst ein Gespür entwickeln. Rückblickend konnte ich mich schnell «eingrooven». Das viele Schreiben mit meiner Lieblingsmusik in den Ohren in gemütlichen Kaffees tat mir sehr gut. Ich konnte mich reflektieren und herunterfahren. Der ganze Stress, den ich zuvor in mir hatte, lässt erst jetzt so richtig nach. Da die erste Sprache, die ich als Kind sprach, Türkisch war, fällt mir das Türkischlernen bis anhin nicht allzu schwer. Mit meiner Mama habe ich die vergangenen Jahre immer wieder Türkisch gesprochen, aber ich verstand bei Weitem nicht alles. Zudem hatte ich nie Unterricht in dieser Sprache, so fehlten mir Grammatik, Vokabular und Orthografie. Das hole ich nun auf bis Ende dieses Monats. Nach drei Monaten Intensiv-Sprachkurs und dank vieler neuer Bekanntschaften spreche ich nun schon fliessend Türkisch. Einige Wörter gibt es jedoch noch, welche ich nicht verstehe. Aber das habe ich selbst bei der deutschen Sprache noch ab und zu.

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