«Es ist die Felswand, die mich auffordert, zu springen»

Zwei Basejumper springen von waghalsigem «Exit» neben dem Stäubenfall hinunter

Dieser Artikel ist am 3. Februar 2021 im «Urner Wochenblatt» erschienen.

Drei. Zwei. Eins – Sprung. Samuel Schumacher stösst sich vom vereisten Felsvorsprung neben dem Stäubenfall ab. Millisekunden lang hängt er in der Luft. Pure Freude und eine unbeschreibliche Freiheit machen sich in seinem Körper breit. Zirka 2 Flugminuten später ist es vorbei, doch die Glücksgefühle halten an.

Äsch, 10. Januar, 8.00 Uhr, zirka 3 Stunden zuvor. Samuel Schumacher und Florian Zimmermann kommen in Uri an. Ziel ist es, neben dem Stäubenfall mit einem Fallschirm runterzuspringen – und das, obwohl minus 16 Grad Celsius für diesen Tag vorgesehen sind und neuer Schnee liegt. Waghalsig. Die Idee für den in der Basejumping-Szene genannten «Mission day» hatte Florian Zimmermann. Seit mehreren Jahren springt er von bereits gekennzeichneten Absprungstellen und entdeckt auch immer wieder gerne neue «Spots», so wie an diesem Tag.

Basejumping – die Faszination für die «Freiheit»
Mitgerissen in die Basejumping–Szene hat es auch Samuel Schumacher. Der 27-jährige Luzerner, der nebenbei auch für nennenswerte Labels modelt und in der Finanzbranche arbeitet, ist aber erst seit September vergangenen Jahres in der Basejumping-Szene. Trotzdem, mit Fliegen hatte er bereits zuvor sehr viel Erfahrung gesammelt. So hat seine Faszination für die «Freiheit», so beschreibt Samuel Schumacher sein Hobby, mit dem Fallschirmspringen vor sieben Jahren angefangen. Zuerst waren es Fallschirmsprünge aus Flugzeugen, das sogenannte Skydiving, seit September vergangenen Jahres hat ihn nun auch noch das Basejumping-Fieber gepackt. Für seine Leidenschaft hat er eine Skydiving-Lizenz gelöst und ging ihr in Locarno nach. Zu dieser Zeit sprang er schon weit über 300 Mal aus dem Flugzeug heraus.

2 Stunden bis zum «Exit»
Zurück in Äsch, Unterschächen, parkieren Samuel Schumacher und Florian Zimmermann das Auto in der Nähe der Kapelle und machen sich an den Aufstieg. Mit dabei ist auch Orazio Guarnieri. Er dokumentiert alles auf Fotos und Videos. Zu dritt laufen sie zirka 2 Stunden bis zum Absprungort, den der 32-jährige Florian Zimmermann auf Google Earth gefunden hat – und das alles in Eiseskälte. Oben angekommen, richten sie sich direkt ein. Sie räumen, so gut es geht, den Schnee weg, und mit einem Lasergerät messen sie die Distanz vom sogenannten «Exit», so wird der Absprungort genannt, bis zur untersten Fussspitze der Felswand. Gut eine Dreiviertelstunde später steht fest: «Wir springen.»

Samuel Schumacher (links) mit Florian Zimmermann. Die beiden sprangen in Unterschächen von einem Felsvorsprung neben dem Stäubenfall in die Tiefe. (Foto: Orazio Guarnieri)

«Mission day». Nachdem Samuel Schumacher (links) und Florian Zimmermann das Auto in Äsch parkiert haben, laufen sie bei minus 16 Grad Celsius zirka 2 Stunden zum «Exit», dem Absprungort. (Foto: Orazio Guarnieri)

Tod steht nicht im Fokus
Springen kann man aber nicht einfach so, das muss geübt sein, und vor allem müssen vor dem Absprung weitere wichtige Dinge stimmen. Beispielsweise die Packart des Fallschirms. Diese hängt von der Höhe der Felswand ab und ist jedes Mal unterschiedlich. Gelernt haben die beiden das in Basejumping-Kursen. Vergangenes Jahr besuchte Samuel Schumacher einen solchen Kurs. Dort lernten die beiden jegliche Packarten, wie man sich einrichtet, aber auch diverse Sprünge von verschieden Objekten aus unterschiedlichen Höhen. Samuel Schumacher ist dankbar dafür, Florian Zimmermann kennengelernt zu haben. «Durch ihn konnte ich sehr viel Neues dazulernen», sagt er. Sein Lebensziel ist es, eines Tages vom Basejumping leben zu können. «Seit ich ein Kind bin, mache ich Sport, aber als ich vergangenes Jahr mit Basejumping anfing, da merkte ich, wie es mich seither voll und ganz erfüllt. Es ist die Felswand, die mich auffordert, zu springen.»

Beim Absprung geht Samuel Schumacher aber immer vom Schlimmsten aus. «Das Schlimmste ist, wenn der Schirm seitlich oder nach hinten aufgeht. Das endet tödlich.» Um das zu vermeiden, braucht es höchste Konzentration und Ruhe. «Deshalb denke ich vor einem Sprung nicht an den Tod, sondern nutze den Moment, um mich auf das Bevorstehende zu konzentrieren.»

«Erst wenn ich beim ‹Exit› stehe, entscheide ich, ob ich springe.» – Samuel Schumacher

Lebensfroh statt lebensmüde
Hektik sei nicht angebracht, schlussendlich gehe es um alles oder nichts. Trotzdem, wenn er sich unwohl fühle, und das kam auch schon einige Male vor, dann springe er nicht. Zu gross sei der Respekt davor, dass etwas passieren könnte. «Erst wenn ich beim ‹Exit› stehe, entscheide ich, ob ich springe.» Ist er lebensmüde? «Nein», sagt er rasch und selbstbewusst, «im Gegenteil, ich beschreibe mich als lebensfroh», sagt er schmunzelnd.

So auch in Uri. Konzentriert steht Samuel Schumacher beim Felsvorsprung vor schwindelerregender Höhe neben einem Haufen Neuschnee. Im Kopf geht er nochmals durch, was er genau tun muss. Er hat sich für den PCA-Sprung (Pilot-Chute-Assist-Jump) entschieden, welcher meist auch bei Sprüngen mit niedriger Höhe eingesetzt wird. Bei diesem hält Florian Zimmermann ein «Bridle», ein spezielles Seil, in der Hand, welches bei Samuel Schumachers Fallschirm befestigt ist. Drei. Zwei. Eins – Sprung. Mit dem Sprung lässt Florian Zimmermann das Seil los, und der Fallschirm kommt direkt raus. Pure Freude und eine unbeschreibliche Freiheit machen sich in seinem Körper breit. Zirka 2 Flugminuten später ist es vorbei, doch die Glücksgefühle halten an.

Dort oben steht aber noch Florian Zimmermann, und niemand kann ihm sein «Bridle» halten. Also entscheidet er sich für den «Static-Line-Jump». Bei diesem Absprung befestigt man das «Bridle» an einem Objekt. Das spezielle an diesem Sprung ist, dass am «Bridle» auch noch ein «Brake Cord», sogenanntes Bremsseil, angemacht ist. Dieses spezielle Seil reisst sofort, sobald ein gewisses Gewicht darauf lastet. So bringt Florian Zimmermann das Seil am danebenstehenden Baum an und springt. Unten beim Wanderweg landet er, Samuel Schumacher empfängt ihn freudig. Résumé des Tages: Der «Mission day» hat sich gelohnt, ein weiterer «Exit» für die Zukunft steht nun auf der Liste.

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